CD-Besprechung

Hommage à Blanche Selva

Mythique égérie du piano français

 

Diane Andersen

CiAr Classics CC 012

1 CD • 67min • 2020, 2021

26.08.2023

Künstlerische Qualität: 10

Klangqualität: 10

Gesamteindruck: 10

Klassik Heute:

Empfehlung

 

Die 1934 geborene Grande Dame der belgischen Klaviertradition und gesuchte Wettbewerbsjurorin, Diane Andersen, wählte für ihre neueste CD Werke, die von der in der Zwischenkriegszeit höchst renommierten französischen Pianistin Blanche Selva uraufgeführt oder ihr – wie das zweite Heft der Iberia von Isaac Albeniz – gewidmet wurden. Abgesehen von Vincent d’Indy kennt man die Komponistennamen vielfach nur, wenn man sich aufmerksam in dickere Abhandlungen zur Geschichte der Klaviermusik vertieft hat.

 

Komponieren zwischen Spätromantik und Neoklassizismus

Allen Komponisten dieser CD ist gemeinsam, dass sie in enger Verbindung zu Vincent d’Indy (1851-1931) und der Schola Cantorum, dem zweiten bedeutenden Zentrum der Pariser Musikausbildung standen. D’Indy gehört als Schüler César Francks neben Ernest Chausson und Albéric Magnard zu den Hauptexponenten des „Wagnérisme français“. Sein Thème varié, Fugue et Chanson steht in der Tradition der Triptychen seines Lehrers wie etwa Prélude, Aria et Final. Es entstand 1925 und ist somit ironischerweise das jüngste Werk des ältesten Komponisten der Einspielung. Das sich langsam manifestierende Thema ähnelt dem von Robert Schumanns Sinfonischen Etüden. Es wird allerdings des Öfteren in Tristan-Chromatik geradezu gebadet.

Eine Marsch-Episode innerhalb der Variationen mag als Nachklang des Ersten Weltkriegs gelten. Geradezu raffiniert: die Wechsel zwischen völlig unterschiedlichen Stimmungen. Die Fuge wandelt das Thema dann in ein Lamento, das Chanson fungiert als virtuoser Rausschmeißer mit ziemlich unangenehmen Repetitions-Passagen.

 

Folkloristische Stimmungsbilder

Pierre de Bréville (1861-1949) veröffentlichte seine mit exotischen Skalenbildungen experimentierenden Stimmungsbilder Stamboul, rhythmes et chansons d’Orient 1895 im Jahre 1921. Hier fesselt besonders das rhythmisch komplexe, temperamentvolle Le Phanar (danse Mandra), das bequem als früher folkloristischer Bartók oder als etwas leichteres Schwesterwerk zu Mily Balakirews Islamey durchginge. Der Bretone Guy Ropartz (1864-1951) dürfte am ehesten den Organisten für seine beiden Sammlungen Au pied de l’autel geläufig sein, die sich im Gottesdienst dekorativ machen und nicht viel Vorbereitungszeit benötigen. Er war später Direktor des Strassburger Konservatoriums und Lehrer des Dirigenten Charles Munch. Sein Nocturne No. 2 entstand 1916 und steht mit seinen bitonalen Wendungen den mittleren Werken von Alexander Skrjabin nahe.

Die ebenfalls 1921 entstandene Fête béarnaise der Pianistin Cécile Gauthiez ist als einziges Stück der CD Blanche Selva gewidmet. Das freundliche Stimmungsstück ist „Aufheller“ von entzückender Wirkung. Denn danach folgt das freitonale Le Tombeau de Dufault, joueur de luth aus dem Jahre 1923 von Georges Migot (1891-1976), das als eine sprödere Antwort auf Maurice Ravels Tombeau de Couperin gelten kann.

 

Die Kunst der alten Dame

Wer jenseits der Achtzig noch derart brillant zu musizieren vermag wie die 1937 in Kopenhagen geborene Diane Andersen, die, seitdem sie bei Stefan Askenase in Brüssel studierte, in Belgien lebt und wirkt, muss als Meisterpianistin gelten. Frau Andersen gestaltet diese wahrlich sowohl musikalisch wie auch technisch keinesfalls einfachen Werke souverän und mit einer bewundernswerten Anschlagskultur. Auf diese Weise werden die teilweise doch recht dichten Strukturen transparent. Wichtiges wird ohne jegliche Härte herausgeholt und dies, ohne dass aus der rhythmisch gelegentlich außerordentlich vertrackten Begleitung ein pures Gemurmel wird. Man kann diese Kompositionen sicherlich noch wuchtiger und reißerischer spielen und damit im Konzertsaal den Applaus herausfordern, aber man würde ihnen damit nicht gerechter.

Das Klavier wurde womöglich etwas zu trocken eingefangen. Vielleicht täuscht mich da aber auch die absolute clarté der Pianistin. Für das nur in englischer und französischer Sprache vorliegende, sehr informative Booklet ziehe ich wegen der Bedeutung des Repertoires diesmal keinen Punkt ab.

Fazit: Für Pianisten Pflichtkauf, alleine des Repertoires wegen, aber auch wegen des wunderbar klaren Spiels der Diane Andersen. Für alle anderen ebenfalls dringend empfohlen, damit sie feststellen, dass französische Klaviermusik eben nicht nur aus Fauré, Debussy und Ravel besteht.

Thomas Baack [26.08.2023] - Klassik Heute (http://www.klassik-heute.com)